Hier ein Text unseres Pastors Andreas Hamburg, der auch als Co-Friedensbeauftragter der Bremischen Evangelischen Kirche tätig ist:
Vor etwa acht Jahren bin ich bei einem Spaziergang an der potemkinschen Treppe in Odessa einer trostlosen Ratlosigkeit begegnet: Der damalige Außenminister Frank Walter Steinmeier war da, als Minister und Hoffnungsträger und als Mensch, der ratlos und verzweifelt zu sein schien. Annexion der Krim, militärische Auseinandersetzungen in der Ost-Ukraine, Unruhen im ganzen Land und die Politik des Westens, die man in einem Satz wiedergeben kann: „Wir sind besorgt“.
Eine trostlose Situation, ohne jegliche Aussicht auf Änderung. In diesen Zustand fühle ich mich in diesen Wochen erneut hineinversetzt, trotz der räumlichen Trennung von der Ukraine. Ich weiß nicht, was man tun könnte, sollte oder müsste. Dass wir alle im Westen nun besorgt sind, versteht sich ja von selbst, denn wir wissen längst, dass es bei weitem nicht mehr nur um die Ukraine geht. Und doch sind die Menschen dort näher an der Katastrophe und erleben die Situation anders. Einige dieser Menschen möchte ich heute zu Wort kommen lassen, Menschen die mit mir gemeinsam die Trostlosigkeit von 2014 empfunden und ausgestanden haben:
Kürzlich habe ich mit einer Bekannten gesprochen, Nastja ist eine ehemalige Mitarbeiterin unserer odessitischen Kirchengemeinde. 2014 studierte sie Medizin und beriet uns bei der Planung eines Lazaretts in unserer Kirche, das zum Glück nie in Betrieb genommen werden musste. Jetzt arbeitet sie als Ärztin, ist verheiratet und hat drei Kinder. Auf die Frage, ob auch bei ihr das Jahr 2014 mit der Bedrohung der russischen Invasion erneut in lebendiger Erinnerung ist, antwortet sie: „Die Bedrohung ist allgegenwärtig und ich weiß von meinen Verwandten in Russland, dass es den Menschen da auch so geht. Als ich letzte Woche außerhalb des Landes auf einer Dienstreise war, habe ich meinem Mann alles aufgetragen, wie er das Haus zu verlassen hat, wenn es dann soweit ist: Kindersachen, Pässe, Geld … Ich ertrage die Unsicherheit und Angst nicht mehr. Keine Aussichten auf Besserung, man kann nichts planen. Dazu kommt noch die Stromversorgung, die nur von 17 bis 6 Uhr gesichert ist und Gaspreise, die monatlich drei Viertel meines Gehalts ausmachen.“
Ich erkundige mich nach Ihren Kindern und fragte, ob und wie es ihr gelingt ihnen gegenüber ruhig zu bleiben? Sie meinte, dass sie sie nicht weinen sehen und solange die Kinder sie und ihren Papa in ihrer Nähe haben, gehe es ihnen gut. Wie soll es weiter gehen, frage ich sie: „Ich sehe mich hier nicht mehr. Spätestens in einem Jahr bin ich hier weg …“ Ich bin sicher, dass sie es schaffen wird. Irgendein Krankenhaus oder eine Arztpraxis wird sie in Deutschland willkommen heißen.
Beim Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche, in der wir als Familie fast 10 Jahre tätig waren, erkundige ich mich nach der Situation in den Gemeinden im Schatten des drohenden Krieges. Er wohnt mit seiner Frau und drei Kindern in Charkiw, direkt an der russischen Grenze. Er sagte: „Die Menschen in unseren Gemeinden haben eigentlich keine Panik. Die Bedrohung haben wir ja nicht seit gestern, man gewöhnt sich also auch an so eine Situation. Irgendwann wird es einem klar, dass das Leben weiter gehen muss, besonders angesichts der Zustände, die man nicht ändern kann. Wenn ich versuche, mich emotional zu distanzieren, stelle ich fest, dass unser östlicher Nachbar mit seinem Einmarsch in die Ukraine keinen Gewinn machen wird. In unseren Gemeinden aber versuchen wir trotzdem einen Raum für alle Ängste zu schaffen. Es tut den Menschen gut, wenn sie über alles sprechen können. Bei vielen stelle ich fest, dass eher die „normalen“ alltäglichen Probleme, die Ängste der Menschen befeuern, Lebensmittel- und Gaspreise vor allem. Die Angst hat auch etwas mit Prioritäten zu tun. Klar, mache ich mir Gedanken, was ich im Falle der Invasion tun werde: Meine Kinder und Frau in Sicherheit bringen, zu den Schwiegereltern nach Polen. Ich bleibe aber hier, hier werde ich gebraucht.“
Ein katholischer Freund, mit dem wir gemeinsam die ökumenische Friedensarbeit 2014 organisiert hat, teilt mir seine Wahrnehmung mit: „Ich habe den Eindruck, dass der Westen im Jahr 2014 die Globalität der Welt nicht so recht verinnerlicht hat. Wenn im Westen etwas geschieht, bleibt der Osten davon nicht unberührt, so ist es mit Norden und Süden, wir leben ja in einer Welt. Hätte man das damals so deutlich wahrgenommen, wäre es möglicherweise nicht zur Krim-Annexion gekommen – oder man hätte zumindest durch spürbare Sanktionen, die heutige Situation verhindern können. Die Geschichte kennt aber kein Konjunktiv und das, was wir jetzt haben, haben wir. Was ich denke, nein, was ich fühle? Ich habe Angst um meine Lieben. Ja es gibt viele Menschen in meiner Nähe, die wirtschaftlich denken und mich trösten. Sie sagen, das hier hat keine Logik und keinen wirtschaftlichen Vorteil. Ich glaube, dass diejenigen, die auf das Geschehen Einfluss haben, sich von keiner Logik leiten lassen. Es handelt sich nicht um die Wirtschaft, nein, keine Ahnung was dahinterstecken könnte; eine Überzeugung zur Erfüllung der Weltmission oder der Rachegedanke, der der Sehnsucht nach der vergangenen Großmacht entspringt.“
Dieses Unfassbare ohne jede Logik macht mir Angst. Ein Bekannter von mir äußerte einen merkwürdigen Gedanken, den ich abschreckend und faszinierend zugleich finde: „Vielleicht braucht die Ukraine diesen Krieg, damit wir ein für alle Mal begreifen, dass wir in unserer Nachbarschaft keinen Freund haben und einen Schlussstrich ziehen können, auch unter unsere Vergangenheit. Bei all dem Schmerz, den ein Krieg mit sich bringt, wäre er doch auf längere Sicht ’sinnvoll‘. Ich persönlich glaube nicht, dass so ein Krieg lokal begrenzt bleibt. Die Ukraine hat nicht die gleiche Armee wie 2014, es gibt viele Menschen, die bereit sind für ihr Land einzustehen. Es ist auch erfreulich, dass wir nicht ganz allein dastehen. Es täte uns sicherlich gut, wenn Deutschland sich deutlicher zu uns positionieren könnte und damit zeigt, dass es Werte gibt, die über der wirtschaftlichen Gemütlichkeit und dem Wohlstand stehen. Im Grunde genommen war der Maidan, die Revolution der Würde 2014 das Bekenntnis zu solchen übergeordneten Werten, zu Europa, das manchmal seine Wurzeln zu vergessen scheint: die Würde des Menschen, Gerechtigkeit und Wahrheit, die bei Weitem nicht immer unter einem Dach mit dem wirtschaftlichen Vorteil leben. Klar verstehe ich einen Menschen im Westen, der nicht bereit ist auf seinen Wohlstand zu verzichten, mir würde es genauso ergehen. Nur die bittere Wahrheit besteht darin, dass die Welt, in der wir uns gemütlich zu fühlen, gewohnt waren, vor 15 oder 20 Jahren, nicht mehr existiert. Vielleicht kommt sie wieder in 50 Jahren für unsere Kinder und Enkelkinder. Wenn wir dafür sorgen möchten, müssen wir standhaft bleiben und Entbehrungen in Kauf nehmen. Es bedeutet nicht, dass Menschen in der Ukraine die Verantwortung den westlichen Schultern aufladen wollen, es handelt sich um unser Land, das wir zu verteidigen haben. Aber nur das Gefühl an sich, dass die Menschen mit dessen Werten wir uns verbunden fühlen, uns in unserer Not mittragen, verleiht Kraft und Hoffnung.“
Diese Kraft und diese Hoffnung wünsche ich den Menschen in der Ukraine, mögen diese in ihrer bislang trostlosen Ratlosigkeit und Verzweiflung endlich getröstet werden. Und Gott möge auch die Herzen derer berühren, die keinen anderen Ausweg sehen, als den Frieden in unserer Welt zu gefährden.